Der Kobold

»Das war kein Radio. Das war eine Koboldfalle«, keuchte Frank Köhlers Vater und verstummte. Der alte, gebrechliche Mann sank erschöpft in die Matratze zurück und für einen Augenblick dachte Frank, sein Vater wäre gestorben. 

Die Bettdecke um ihn herum erschien im Gegensatz zum mageren Körper viel zu wuchtig und es sah aus, als würde er sogleich darin verschwinden.

»Vielleicht wäre das für alle die beste Lösung«, murmelte Frank und biss sich auf die Lippen, weil ihn das schlechte Gewissen übermannte. Er wünschte sich, sein Vater könnte endlich sterben, könnte loslassen und gehen und sein Leiden hinter sich lassen.

Aber dann hob sich die schmale Brust und ein rasselnder Atemzug ertönte. Die wässrigen Augen starrten zur Decke, der Mund stand halb offen und die Zunge lag darin wie ein Fremdkörper. Dann bewegten sich die spröden, grauen Lippen.

»Der Kobold …« Die Stimme seines Vaters war schwach, nicht viel mehr als ein heiseres Flüstern. »Ich brauche ihn.«

Frank seufzte. Vor ein paar Monaten hatte ein Hirnschlag aus dem wortgewandten, erfolgreichen Juristen einen verwirrten Pflegefall gemacht, der dem Tod immer näher kam, aber doch nicht loslassen konnte.

Erst vor Kurzem hatte Frank den gesamten Hausrat veräußert, als klar geworden war, dass sein Vater nie wieder in sein Haus zurückkehren würde. Das Verhältnis zu seinem Vater war nie besonders gut gewesen, stets hatte er das Gefühl gehabt, den Erwartungen nicht gerecht zu werden. Er hatte es als Erleichterung empfunden, die Besitztümer und Beweise des Erfolgs seines Vaters übers Internet und im Gebrauchtwarenladen loszuwerden. Nur beim veralteten Radio hatte er gezögert, denn das hätte Frank als Kind immer gerne gehabt, aber sein Vater hatte es gehütet wie seinen Augapfel.

»Das Radio … wo ist es?« Die Stimme seines Vaters klang verzweifelt. 

»Tut mir leid, das habe ich letztens verkauft«, antwortete Frank und spürte einen Kloß im Hals. Er wusste, wie sehr sein Vater daran gehangen hatte. Wenigstens das Radio hätte er ihm lassen können.

Der alte Mann nahm angestrengt einen tiefen Atemzug und tastete mit einer schwachen Bewegung nach Franks Arm. Die Finger seiner knochigen Hand fühlten sich kühl und rau an.

»Ich brauche es«, krächzte er. »Ich … muss dir den Kobold geben.«


Frank hatte seinen Vater früher als beabsichtigt verlassen. Sein Vater hatte sich immer weiter in ein wirres Gerede hineingesteigert und Frank angefleht, ihm das Radio zu bringen. Schlussendlich hatten die Schwestern seinen Vater beruhigen müssen. Unter dem Vorwand, eine Verabredung im Tierheim einhalten zu müssen, weil sich seine Tochter zum Geburtstag so sehr ein Haustier wünschte, hatte sich Frank schließlich verabschiedet und war losgefahren.

Wie der Zufall es wollte, führte der Weg ihn am Trödelladen vorbei, in dem er das Radio seines Vaters verkauft hatte.

Er wollte es nicht wiedersehen. Damit hatte er abgeschlossen, es hatte ihn schon genügend Überwindung gekostet, es loszuwerden. Es wieder in den Händen zu halten würde Erinnerungen wecken, die er glaubte, abgelegt zu haben. Aber dann erinnerte er sich an den flehenden Blick seines Vaters und er wendete den Wagen.

Als er den vollgestopften Trödelladen betrat, schlug ihm der Geruch nach wurmstichigem Holz, Staub und alten Erinnerungen entgegen. Eine ältere Dame stand hinter einem Sekretär und blickte ihn freundlich über den Rand ihrer Halbbrille an.

»Oh. Schön, Sie wieder zu sehen! Wie kann ich Ihnen diesmal helfen?«

»Ich bin auf der Suche nach meinem Radio. Ich habe es Ihnen letzte Woche verkauft und möchte es wiederhaben.«

Die Dame nickte ihm freundlich zu. »Ah, ja. Ich erinnere mich. Warten Sie.« 

Sie verschwand hinter dem Sekretär und als sie wieder hervorkam, hielt sie das Radio in den Händen. 

Vorwurfsvoll musterte sie Frank über den Rand ihrer Brille. »Wir haben uns schon gefragt, warum Sie es verkauft haben. Das ist nämlich kein Radio, sondern offensichtlich eine Koboldfalle.«

Frank blinzelte. »Wie bitte?«

»Junger Mann!« Sie klang entrüstet. »Sie haben wirklich keine Ahnung von Kobolden, oder?«

»Nein, ich …«

Mit einer ungeduldigen Handbewegung schnitt sie Frank das Wort ab. »Erstens: Kobolde gibt es. Zweitens: Viele halten sich Kobolde, denn sie bringen Glück und Wohlstand. Drittens«, sie hob einen Zeigefinger, »und das ist der wichtigste Punkt, sie müssen vor dem Tod weitergegeben werden. Denn sonst kann diese Person nicht sterben.«

»Bitte?«, mehr brachte Frank nicht heraus. Als Sohn von Akademikern zu rationalen Gedankengängen erzogen fiel es ihm schwer, dieses Geschwätz zu glauben. Sein Vater hing an diesem Radio und wollte es vor seinem Tod noch einmal sehen, ganz einfach. Das hatte nichts mit Kobolden zu tun.

Frank schnaubte und verzog das Gesicht.

»Kann ich das Radio nun wiederhaben oder nicht?«


Als Frank mit dem Radio das Pflegezimmer betrat, war sein Vater wach und blickte ihm überrascht entgegen. Tränen stiegen dem alten Mann in die Augen, als er das Radio mit zittrigen Händen ergriff und an sich drückte.

»Endlich. Es tut mir so leid. Ich wollte nicht, dass das passiert, aber es ging alles so schnell«, murmelte er.

»Schon gut, ich …«, begann Frank, aber dann merkte er, dass sein Vater gar nicht mit ihm gesprochen hatte. Er hatte sich dem Radio zugewandt und strich mit den knochigen Fingern zärtlich über das Gehäuse.

»Ich hätte das schon viel früher tun sollen.«

Er drehte das Radio um und öffnete eine Klappe, die Frank vorher gar nicht aufgefallen war. 

»Ich will, dass du Frank dienst. Er ist jetzt dein neuer Herr.«

Mit diesen Worten griff er in das Radio hinein und beförderte einen zeternden und zappelnden Kobold zu Tage, den er Frank hinstreckte. Ungläubig starrte dieser erst den Kobold an, dann seinen Vater.

»Nimm ihn.«

Wie ferngesteuert nahm Frank ihm den Kobold ab.

»Danke für alles, mein Sohn. Ich bin so stolz auf dich.« Mit diesen Worten ließ Franks Vater mit einem zufriedenen Lächeln die Hände mit dem Radio in den Schoss sinken und einen Atemzug später starb er.

Franks Blick wanderte ungläubig zwischen seinem Vater und dem zeternden Kobold in seinen Händen hin und her. Er war komplett überfordert. 

Aber immerhin hatte sich die Frage nach dem Haustier erledigt.

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