Die Vögel im Walde

Seit ein paar Tagen ritt Kelorn Ronis durch Sümpfe und dichte Wälder und verfluchte die Entscheidung, sich von seinem Begleiter getrennt zu haben.

Siros hatte den Vorschlag gemacht, separat nach dem vermissten Sohn des Erzherzogs zu suchen, denn die Zeit drängte und es ging um eine Menge Gold. Kelorn war einverstanden gewesen. Aber jetzt, wo er mit seiner Stute durch den nebligen Wald stolperte und einmal beinahe die Orientierung verloren hatte, bereute er es, eingeschlagen zu haben.

Außerdem verfluchte er die Wälder und Sümpfe des Herzogtums. Kelorn hatte herausgefunden, dass der Sohn des Erzherzogs vor einigen Tagen in Richtung Norden aufgebrochen war, ausgerechnet in jene Gegend, die wegen ihrer Flüsse und Wälder schwer zugänglich war. Zu allem Übel munkelte man, dass die Hinterwäldler mit dunklen Mächten im Bunde standen. Daran glaubte Kelorn freilich nicht. Die Adligen bezeichneten schließlich alle, die etwas abseits der Zivilisation hausten, als Wilde und dichteten ihnen sämtliche Schandtaten an, die das Herzogtum verbot.

Was der Sohn des Erzherzogs jedoch hier oben verloren hatte, konnte Kelorn sich nicht vorstellen. Aber das spielte auch keine Rolle, denn das Einzige, was zählte, war die Belohnung. Mit dieser würde er sich endlich eine Schiffspassage in den Süden leisten und diesen himmeltraurigen Fleck Erde hinter sich lassen können.

Es dämmerte bereits, als sich der Wald endlich lichtete und eine Ebene freigab. Hier war offensichtlich gerodet worden, denn als er seine Stute durch das kniehohe Gras und die Brombeeren lenkte, erkannte er vereinzelte Baumstümpfe, die wie knorrige Finger aus dem Boden ragten. Nebelfetzen zogen träge über die Ebene und dahinter ragte der Wald wie ein schwarzes Band in den dunkelgrauen Himmel. Bei jedem Schritt vernahm er ein schmatzendes Geräusch. Auf diesem sumpfigen Boden konnte er unmöglich ein Nachtlager aufschlagen.

Doch dann sah er die Lichter.

Einer der Nebelfetzen hatte sich verzogen und gab den Blick auf ein paar schwach leuchtende gelbe Punkte frei. Im Dämmerlicht erkannte er nun auch ein paar dunkle Schatten. Es waren eindeutig Häuser, die sich in der Mitte der Ebene zusammendrängten, als wären sie eine Herde verängstigter Schafe.

Dann sah Kelorn die Kreuze.

Es waren unzählige, die manchmal verstreut und manchmal in kleinen Grüppchen windschief auf der Ebene um das Dorf herum aufgestellt worden waren. Er erkannte im schwachen Licht und im Nebel keine weiteren Einzelheiten, aber den Silhouetten nach zu urteilen mussten es Vogelscheuchen sein.

»Na, die scheinen ja ein grosses Problem mit Vögeln zu haben«, dachte Kelorn und steuerte seine Stute auf das Dorf zu.

Kurz davor erreichte er endlich festen Boden. Seine Hoffnung, doch noch eine Unterkunft zu finden, stieg, als er den Dorfplatz erreichte und dort eine Gaststätte entdeckte.

Gerade als er abgestiegen war und seine Stute in die Stallungen bringen wollte, kam ihm ein junger Bursche entgegen.

»Kann ich Euch helfen?« Seine Stimme klang krächzend, beinahe erkältet. Er blickte Kelorn mit starrem Blick fragend an.

»Ich suche eine Unterkunft.«

»Dort.« Der Bursche machte mit dem Kopf eine abgehackte Bewegung zum Gasthaus. Dann griff er mit dürren Fingern nach den Zügeln. »Ich versorge Euer Pferd.«

Bevor Kelorn etwas erwidern konnte, führte der Bursche die Stute bereits zu den Stallungen. Als er die Tür aufstieß, fiel Kelorn etwas auf, er konnte aber nicht genau sagen, was ihn störte. Der Gedanke war wieder weg, als die Tür hinter dem Stallburschen ins Schloss fiel.

Als Kelorn die Gaststätte betrat, kam es ihm vor, als hätte er einen Schwarm Vögel aufgeschreckt. Fast alle Gäste sahen erschrocken auf, sämtliche Gespräche verstummten und unzählige Augenpaare starrten ihn überrascht an. Mit Fremden rechnete hier wohl niemand.

Er zum Tresen und schob dem Wirt eine Münze zu. »Ich bin müde, habe Hunger und ein paar Fragen.«

»Es gibt nur Eintopf und die Zimmer sind alle belegt.«

Kelorn musterte den Wirt misstrauisch. Die spitze Nase stach aus seinem schmalen, ausdruckslosen Gesicht hervor und die Augen waren leicht gerötet. Kelorn konnte nicht sagen, ob der Wirt log.

»Ich bin auf der Suche nach dem Sohn des Erzherzogs. Ist er hier vorbeigekommen?«

Niemand antwortete. Der Wirt beugte sich zu ihm, schob die Münze zurück und sagte: »Behalte dein Geld. Wir wollen euch hier nicht. Ihr stört die Dinge hier.«

»Wir?«

»Du und dein Begleiter. Der mit dem Hengst.«

Jetzt fiel es Kelorn ein. Er hatte Siros’ Hengst draußen in den Stallungen stehen sehen.

»Wo ist er?«

»Er reist weiter.« 

Einen Moment lang wunderte sich Kelorn über diese seltsame Antwort. Dann überkam ihn unerklärliche Wut.

»Was soll das heißen?«

»Dass auch du weiterreisen wirst.«

Kelorn fuhr herum. Er hatte nicht bemerkt, dass plötzlich zwei Kerle hinter ihm standen und ihn aus starren Augen anblickten. Ihre Bewegungen waren ruckartig und viel zu schnell. Er kam nicht einmal dazu, sein Schwert zu ziehen, als sie ihn angriffen und bewusstlos schlugen.


»Wir treffen uns früher als beabsichtigt«, sagte Siros mit gequälter Stimme. Kelorns Schultern schmerzten, die ausgebreiteten Arme waren taub und seine Füße baumelten über dem Boden. An Schultern und Rücken spürte er hartes Holz und am ganzen Körper schnitten Seile in sein Fleisch. Er hob den Blick und erkannte Siros neben sich.

»Sie sagten, du seist weitergezogen«, sagte Kelorn verwirrt.

»Das sagen sie zu allen, die sie hier opfern.«

»Opfern? Aber die Vogelscheuchen …«

»Ich dachte anfangs auch, dass es Vogelscheuchen sind«, unterbrach ihn Siros. »Aber es sind keine. Das sind Opferstätten.«

Erst jetzt fiel Kelorn der Gesang auf. Irgendwo hinter ihm mussten die Dorfbewohner stehen und ihn überkam eine unbändige Angst.

Der Wald vor ihm war von einem Moment auf den anderen von lautem Knacken und Rascheln erfüllt, als sich etwas Großes durch das Unterholz zwängte und auf sie zukam.

Etwas schälte sich aus dem Wald, eine widerwärtige Mischung aus Mensch und schwarzem Vogel, aber viel größer als Kelorn es war. Er begann zu schreien.

Mit wenigen grotesken Hüpfern stand das Ding vor ihm und der Geruch nach Moder und Verwesung schlug ihm entgegen. Starre Augen glotzten ihn an und vom zerfurchten Schnabel tropfte zähes Blut.

Und dann schnappte es nach Kelorn und sein Schrei verstummte.

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