Die Junior-Suite

Endlich geht die Tür wieder auf.

Das Zimmermädchen von vorhin ist zurück diesmal mit zwei Mitarbeitern des Sicherheitsdienstes im Schlepptau. Das erste Mal hat die junge Frau laut geschrien und ist davongelaufen, als sie unsere Hotelsuite betreten und den erhängten Geoffrey vom Kronleuchter hat baumeln sehen. Jetzt ist sie einiges gefasster.

Die beiden Sicherheitsleute drängen sich an ihr vorbei und betreten die Suite. Ich weiß, dass es solche sind, weil sie schwarze Anzüge und diese Knopffunkgeräte im Ohr tragen. Die kenne ich aus den Filmen, die Geoffrey und ich immer zusammen geschaut haben.

Auch sie wirken überrascht, als sie ihn hängen sehen, bleiben aber immerhin im Raum stehen und schreien nicht. Der eine hält die Hand ans Ohr und spricht leise etwas in seinen Jackettkragen. Ich kann nichts verstehen, hoffe aber, dass er Verstärkung holt.

Ich beobachte, wie die drei unschlüssig in der Nähe der Tür stehen bleiben. Wahrscheinlich müssen sie auf die Verstärkung warten und dürfen nichts anfassen.

Während wir also warten, versuche ich, ihre Gedanken zu erraten. Sie betreten die Junior-Suite im 47. Stock des Hotels und sehen einen leicht voluminösen Mann mittleren Alters, gekleidet in ein blaues Seidenpyjama, vom eleganten Kronleuchter baumeln.

Immerhin ist Geoffrey nicht nackt. In den Filmen sind die Toten ja oft unbekleidet, obwohl, meistens sind es die Frauen, die nackt und tot sind.

Ich muss zugeben, auf den ersten Blick sieht es tatsächlich so aus, als hätte Geoffrey mit dem Gürtel des Bademantels Suizid begangen. Aber das stimmt nicht ganz.

Langsam verspüre ich Hunger, denn das Frühstück musste ich heute zwangsläufig auslassen. Während die anderen noch warten, suche ich mir ein paar Resten, finde aber zu meinem Missmut nichts.

Wer wohl als Verstärkung kommt? Eine Spezialeinheit? Oh, oder vielleicht sogar die Armee? Wahrscheinlich nicht. Ich gehe davon aus, dass der Anzugträger einen Suizid gemeldet hat. Da kommen wahrscheinlich maximal der Notarzt und die Polizei.

Schade.

Ich vertreibe mir die Zeit, indem ich zum Fenster hinausblicke. Von da, wo ich mich gerade befinde, sehe ich leider nicht so viel, außer ein paar andere Hochhäuser und deren Zimmer. Ob einer von den Bewohnern dort ahnt, dass hier jemand tot von der Decke baumelt?

Endlich kommt Bewegung in die beiden Anzugträger. Sie gehen raus und dann kommt auch schon der Notarzt mit einem Koffer, angezogenen Latexhandschuhen und zügigem Schritt in die Suite. 

Ich finde es schade, dass er dem goldumrahmten Bild im über dem türkisfarbenen Sofa gar keine Beachtung schenkt, dabei ist es eine so schöne Szene, mit dem Leuchtturm in der Sturmflut. Und die Farben passen so gut. Das Blumenmuster auf dem Teppich scheint ihn auch nicht zu beeindrucken, aber ich kann ihn verstehen. Er ist schließlich Arzt und kein Innendekorateur.

Hinter ihm erscheinen zwei Polizisten, die sich zusammen mit dem Arzt um Geoffrey herum hinstellen und ihn ein wenig mitleidig betrachten.

»Wer ist er?«, fragt der kleinere Polizist einen der Anzugträger.

»Geoffrey Taylor, Investmentbanker. Er war regelmäßig bei uns zu Gast.«

Ich seufze. Ach, Geoffrey. Du hast dich als Investmentbanker ausgegeben? Na gut, so kann man illegales Glücksspiel auch nennen.

Der Arzt wendet sich Geoffrey zu und fühlt den Puls am Handgelenk. Wahrscheinlich kann er schon spüren, dass er tot ist, denn da hat bestimmt schon die Leichenstarre eingesetzt.

»Er ist tot«, höre ich den Arzt sagen.

Das ist nun wirklich keine Überraschung. Aber seltsamerweise fühle ich bei diesen Worten einen feinen Stich im Herzen. Jetzt, wo es ein Arzt sagt, ist es irgendwie offiziell.

»Können Sie den Todeszeitpunkt bestimmen?«

»Schwer zu sagen, der Totenstarre nach zu urteilen vor vielleicht drei bis sechs Stunden.«

Ich nicke anerkennend. Nicht schlecht. Um genau zu sein, ist er um fünf Uhr zweiundzwanzig gestorben. Aber das kann ich ihnen nicht sagen. Stattdessen beobachte ich, wie sich die beiden Polizisten in der Suite umsehen. Sie bewegen sich vorsichtig und bemühen sich, keine Spuren zu verwischen. Oder ich bilde mir das ein, denn bis jetzt kannte ich solche Szenen Gott sei Dank nur aus dem Film.

»Was wissen Sie über Herrn Taylor? War er suizidal?«, fragt der Polizist, der soeben das Bad betreten hat.

»Ich habe nichts bemerkt«, entgegnet das Zimmermädchen. »Er war allerdings ein wenig seltsam«, fügt sie hinzu. »Jedes Mal brachte er ein Aquarium mit. Das war wohl irgend so ein Spleen von ihm.«

»Ein Aquarium? Mit Fischen?«, fragt der andere Polizist verblüfft. 

Ich verdrehe die Augen. Na klar, wofür, denkst du, hat man sonst ein Aquarium. Gut, Geoffrey hat hier immer sein illegal erspieltes Geld versteckt. Der schlaue Hund. Das hatte er bestimmt aus einem Film.

»Ja, mit seinem Goldfisch«, antwortet sie.

Ich verdrücke eine Träne. Ach, der gute alte Geoffrey. Er war immer so tierlieb.

»Denken Sie denn, er hat sich umgebracht?«, fragt das Zimmermädchen zögerlich.

»Das können wir noch nicht sagen, allerdings sieht es sehr danach aus. Das Zimmer ist nicht durchwühlt, keine Einbruchspuren, keine Kampfspuren.«

Ich blicke frustriert drein und seufze. Die Polizisten könnten ein wenig kreativer sein. Ein seltsamer Investmentbanker mit Aquarium, der tot am Kronleuchter in der Suite hängt? Kommt schon, es ist nicht so schwer.

»Es gibt allerdings ein paar Ungereimtheiten«, entgegnet der andere Polizist. »Ich frage mich, wie sich der Mann erhängt haben soll.«

Ich blicke zufrieden rein und verteile in Gedanken Bonuspunkte. Da denkt also doch noch jemand mit.

»Wie meinst du das?«, fragt der andere.

»Unter ihm steht kein Stuhl, keine Leiter, nichts. Wie soll der an den Kronleuchter gekommen sein?«

Ich atme auf. Da haben wir’s. Der Stuhl steht nämlich vor dem Schreibtisch. Der Hotelpage hat ihn dort hingestellt, um das Geld zu zählen, nachdem er Geoffrey gezwungen hat, es erst aus dem Aquarium zu holen und sich anschließend selber zu erhängen. Ganz schön fies.

»Also denkst du, es ist Mord?«

»Könnte sein.«

Jetzt endlich dreht sich der Polizist zu mir um und kommt herüber. Er hebt die Hand, klopft mit dem Fingerknöchel aufs Glas meines Aquariums und blickt mich nachdenklich an. Mit Bedauern in der Stimme sagt er: »Das weiß wohl nur der Kleine hier. Dummerweise kann der Goldfisch nicht reden.«

Photo by Amirmasoud Shokouhian on Unsplash