Familie

»Das Haus steht schon eine ganze Weile leer, da ist keiner mehr drin«, flüsterte Marvin und klopfte mir aufmunternd auf die Schulter. »Na los, sei kein Feigling und geh da rein.«

»Was soll ich denn da drin?«

»Na was wohl. Mir beweisen, wie mutig du bist.«

Mein Blick folgte seiner ausgestreckten Hand.

»Siehst du den Balkon? Du gehst unten rein und kommst dort oben wieder raus. Ganz einfach.«

Ich zögerte und verfluchte mich dafür. Im fahlen Mondlicht sah ich, wie Marvins Augen aufblitzten. Da. Er lachte mich aus. Beunruhigt warf ich einen Blick zum Haus hinüber. Ich benahm mich lächerlich. Es war schliesslich nur ein Haus und nichts weiter, und soweit ich wusste, hatte sich darin in der Vergangenheit weder einer erhängt, noch ein Serienmörder jemanden verspeist. Also sollte es keine Geister und keine Leichen im Keller geben. Trotzdem hatte ich ein mulmiges Gefühl.

Marvin war da ganz anders als ich. Er stand auf unheimliche Dinge, vor allem nachts. Einmal übernachteten wir sogar auf dem Friedhof, aber das habe ich Mutter nie erzählt. Seine Versuche, mich für das Fantastische und Unglaubliche zu faszinieren, scheiterten bis jetzt immer, doch er gab nicht auf. Ich wusste, dass er enttäuscht gewesen wäre, hätte ich ihn heute Nacht nicht begleitet. Und ich konnte Marvin einfach keine Bitte ausschlagen.

»Na, was ist jetzt? Hast du Angst?«, fragte er und lachte leise.

»Ach, sei doch still«.

Zügig durchquerte ich das kniehohe Gras vor dem Haus und schlug einen Bogen um den zugewucherten Teich, dessen Wasseroberfläche aussah wie schwarzes Glas. Ich erreichte die Veranda, stieg so leise wie möglich die Stufen hinauf und presste mich an die Wand neben der Tür. Mit angehaltenem Atem lauschte ich angestrengt, doch ich konnte nichts hören ausser das Rauschen des Blutes in meinen Ohren.

Oder?

Da, ein Knarren. Ich konzentrierte mich darauf, doch das Geräusch wiederholte sich nicht. Ich versuchte vergebens, die Gedanken an das Ungeheuer zu verdrängen, das mir wahrscheinlich hinter der Tür auflauerte.

Schliesslich wagte ich einen Blick durch die Verandatür. Das Mondlicht fiel durch die zerbrochenen Glasscheiben der Wohnzimmerfenster und zeichnete verzerrte Rechtecke aus fahlem Licht auf den Boden. Dank des Vollmondes war es erstaunlich hell. Das Monster, welches mich nun eigentlich hätte fressen sollen, war nicht da.

Ich betrat das Haus, durchquerte eilig das Wohnzimmer und näherte mich der Treppe, die nach oben führte. An der Wand hingen allerlei antike Porträts von Leuten, die mir auf den ersten Blick nicht bekannt vorkamen. Als ich sie genauer betrachten wollte, verschwammen die Gesichter vor meinen Augen. Ich runzelte die Stirn und hielt überrascht einen Moment inne. Plötzlich erschien mir das Mondlicht einen Ticken kälter und das Haus einen Hauch düsterer als noch zuvor. Mein Mund wurde trocken, mein Herz begann zu rasen. Ich riss den Blick von den Porträts los und stieg hastig die Treppe nach oben. Am oberen Ende war ein kurzer Gang, an dessen Ende eine Tür in den Raum mit dem Balkon führte. Staub wirbelte vom Boden auf, als ich sie vorsichtig aufstiess.

Der Raum war sehr klein und enthielt ein Bett, das den Namen kaum verdiente, einen Schrank und einen kleinen Schreibtisch. Mit wenigen Schritten durchquerte ich das Zimmer, liess meinen Blick über die Einrichtung schweifen – und stockte. Auf dem hölzernen Tisch befand sich als einziger Gegenstand ein kleiner Spiegel. Neugierig trat ich näher und betrachtete ihn genauer. Er war von einem fein geschnitzten, hölzernen Rahmen eingefasst, der weder von Staub noch von Spinnweben bedeckt war und auch das Glas war weder blind noch zerkratzt. Obwohl der Spiegel klein und zierlich war, ging eine ungeheure Anziehungskraft von ihm aus. Wie von einer fremden Macht ergriffen streckte ich vorsichtig meine Hand aus und fuhr beinahe zärtlich mit den Fingerspitzen über das polierte Holz.

»Wie seltsam«, murmelte ich. Eine eigentümliche Wärme ging vom kleinen Spiegel aus. Verwundert hob ich ihn hoch und blickte hinein.

Ich sah mich. Und das Zimmer im Hintergrund.

Doch ich sah nicht aus, wie ich es gewohnt war, konnte aber nicht genau sagen, woran es lag. Das Gesicht, das mir aus dem Spiegel entgegenblickte, war ganz bestimmt meins. Und doch war da etwas …

Und dann plötzlich verschwamm das Bild und der Spiegel wurde augenblicklich vollkommen schwarz. Und in diesem Augenblick fühlte ich, wie etwas meine Seele verliess, um etwas Neuem Platz zu machen. Obwohl das Gefühl nur einen kurzen Augenblick währte, spürte ich, dass sich etwas grundlegend verändert hatte. Ich horchte in mich hinein und fühlte weder Angst noch Unbehagen, im Gegenteil, das Neue in mir gab mir ein seltsames Gefühl der Geborgenheit.

Verwirrt blinzelte ich einige Male und blickte wieder in den Spiegel. Das Bild klärte sich langsam und nach einiger Zeit konnte ich wieder das Zimmer erkennen, in dem ich stand. Ich sah das kleine Bett und den Schrank.

Nur ich war nicht da.

Verwundert runzelte ich die Stirn und wedelte mit der Hand vor dem Spiegel hin und her. Doch es nützte nichts: Ich konnte mich im Spiegel nicht entdecken. Erstaunt drehte und betrachtete ich ihn von allen Seiten.

»Ich war am Anfang auch ziemlich erstaunt«, ertönte plötzlich eine Stimme. Erschrocken fuhr ich herum. Hinter mir stand Marvin und grinste. Im fahlen Mondlicht erschien er noch bleicher, als er ohnehin schon war. Ich blinzelte ihn fassungslos an. Ich wusste nicht, was mich mehr erschreckte: Die Tatsache, dass ich aus dem Spiegel verschwunden war, oder dass Marvin plötzlich neben mir stand und im Spiegel ebenfalls nicht zu erkennen war.

»Aber wie …?«, murmelte ich. Langsam keimte in mir ein unheimlicher wie unglaublicher Gedanke auf.

»Endlich habe ich dir bewiesen, dass all diese Geschichten, die ich dir erzählt habe, nicht nur erfunden sind. Menschen, die kein Spiegelbild haben, gibt es nämlich wirklich. Vampire.« Er grinste breit und erlaubte mir den Blick auf seine zwei spitzen Eckzähne. »Und dieser Spiegel kann einen verwandeln, und du hast es soeben selbst erfahren.« Er machte eine kurze Pause, klopfte mir auf die Schulter und verkündete feierlich: »Willkommen in der Familie.«

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