Freier Fall

»Nie im Leben werde ich da mitfahren!« Lisa riss den Blick von der Achterbahn los und drehte sich zu Kathrin um, die mit einem schadenfreudigen Grinsen neben ihr stand.

»Doch, das wirst du. Wetteinsatz ist Wetteinsatz.«

»Muss es unbedingt die Hell Diver sein? Es gibt doch noch andere, bei denen ich nicht das Gefühl habe sterben zu müssen.« Lisa starrte zurück zur Bahn, deren Waggons eben die letzte Steigung überwanden um dann senkrecht in die Tiefe zu rasen. Das Herz schlug hart in ihrer Brust und kalter Schweiss rann ihr den Rücken hinunter. Als die Wagen die Spitze erreichten, wandte sie sich ab und schloss für einen Moment die Augen.

»Natürlich«, sagte Kathrin süffisant. »Das war schliesslich deine Idee. Vielleicht solltest du bei der nächsten Wette nicht so viel trinken.«

Lisa hörte die Bahn dem Abgrund entgegendonnern und die Fahrgäste johlten und kreischten, als wäre der Leibhaftige hinter ihnen her.

»Du könntest wenigstens mitkommen.«

Kathrin lachte. »Niemals. Ich bin doch nicht lebensmüde!« Sie packte ihre Freundin am Ellenbogen und schob sie in die Warteschlange. »Und nun geh schon.«

Lisas Herz hämmerte. Mit wackligen Knien und feuchten Händen reihte sie sich in die Wartenden ein. Ein Rückzieher kam nicht in Frage, denn Kathrin erwartete das Onridefoto, eines dieser schlecht belichteten Bildern, die immer im peinlichsten Moment geschossen wurden und am Ende der Fahrt überteuert gekauft werden konnten.

Sie warf einen Blick zum Anfang der Warteschlange und sah Kathrin, die genüsslich ein Eis schleckte und mit dem Eisverkäufer flirtete. Der Anblick liess ihren Magen rebellieren und sie hoffte, dass sie sich nicht übergeben musste. Das wäre die ultimative Blamage.

Nach einigen quälenden Minuten stand sie auf der Plattform, vor der die Wagen warteten. Leer, unheilvoll. In ihrer Verzweiflung liess sie eine Gruppe Jugendliche vorbei, wohl wissend, dass sie das Unvermeidliche nicht ewig herauszögern konnte. Sie musterte die Sitzreihen vor sich, die alle bis zu letzten Platz besetzt waren und atmete innerlich auf. Sie hatte noch eine Runde Galgenfrist.

»Noch jemand alleine da? Da vorne ist noch etwas frei.« Die Stimme des Platzeinweisers liess sie zusammenzucken. Unwillkürlich duckte sie sich, doch er hatte sie bereits erspäht. Sie kam sich vor wie das schwächste Gnu, vom Löwen zielstrebig aus der Herde herausgepickt, um zerfleischt zu werden. Der junge Mann grinste breit, kam auf Lisa zu und führte sie ganz nach vorne. Mit sanftem aber bestimmten Druck platzierte er sie in den letzten freien Sitz und schloss den Schulterbügel.

»Viel Spass!« Sein Grinsen war diabolisch. Eindeutig.

Der Bügel drückte gegen Lisas Oberkörper und erschwerte ihr das Atmen. Mit feuchten Händen klammerte sie sich daran fest und wandte den Kopf um zu sehen, wem sie wahrscheinlich in den nächsten Sekunden die Hose vollkotzen würde. Sie blickte in das bleiche Gesicht eines Mannes in ihrem Alter, der genauso aussah, wie sie sich fühlte.

»Hallo.«

»Hi.« Sie rang sich ein Lächeln ab und streckte ihm die Hand hin. »Ich bin Lisa. Ich hab eine Wette verloren.«

Er wischte sich die Handfläche an der Hose ab, bevor er ihre ergriff und drückte. »Ich bin Julian. Ich wurde dazu gezwungen.« Sie vernahm Gelächter von den Sitzen nebenan und sah, wie ihm jemand auf den Oberschenkel tätschelte.

Die Bahn setzte sich in Gang. Die gesamte Fahrt klammerte sich Lisa am Bügel fest und überstand die ersten Bunnyhops, Loopings und Inline-Twists den Umständen entsprechend. Sie wagte es sogar, zwischendrin die Finger zu lösen und in die Luft zu strecken. Dann erklommen die Wagen den Top-Hat, die letzte Steigung. Lisa wurde in den Sitz gepresst und der stahlblaue Himmel rückte in ihr Blickfeld, dem sie sogleich ein Stossgebet entgegen schickte. Die Vorstellung, dass es auf der anderen Seite genauso senkrecht nach unten ging, war ihr beinahe unerträglich. Sie streckte die Hand aus und tastete nach der von Julian.

Er ergriff sie, eiskalt und feucht, und ihre Blicke trafen sich. Sein Gesicht war kreidebleich.

Die Welt drehte sich in die Waagerechte. Auf dem höchsten Punkt der Hell Diver glichen die Leute unter ihr kleinen Ameisen und Lisa wurde schwindlig.

Dann kippte die Welt wieder. Keine Sekunde später wurde Lisa in den Sitz gepresst, als die Bahn in beinahe freiem Fall in die Tiefe donnerte. Wind peitschte ihr die Locken ums Gesicht und aus zusammengekniffenen Augen sah sie, wie der Boden rasend schnell näher kam. Sie umklammerte Julians Hand immer fester, schloss die Augen und kreischte, was ihre Lungen hergaben.

Nur wenige Augenblicke später erreichten die Wagen wieder die Waagerechte. Fliehkräfte drückten Lisa ein letztes Mal in die Sitze und sie hatte das Gefühl, als würde ihre Wirbelsäule um die Hälfte zusammengestaucht.

Die Bahn lief aus und hielt endlich an. Lisas Mund war staubtrocken und die Beine zitterten, als hätte sie einen Marathon hinter sich. Sie bemerkte, dass sie noch immer Julians Hand umklammert hielt und löste den verkrampften Griff.

»Sorry«, brachte sie mit einem verlegenen Lächeln hervor und rieb sich den Handrücken. Sie fuhr sich mit der Zunge über die ausgetrockneten Lippen und drehte den Kopf zu Julian, der schief grinste.

»Immerhin haben wir die Fahrt überlebt.«

Sie liessen sich mit den Fahrgästen in Richtung Ausgang treiben.

Gleich davor stand das Häuschen mit den Actionfotos.

Verdammt.

Den Beweis für Kathrin hatte sie ganz vergessen. Sie betrat den kleinen stickigen Raum mit zahlreichen nummerierten Monitoren, auf denen die Schnappschüsse der letzten Fahrt zu sehen waren. Nach einigen Augenblicken hatte sie sich gefunden: Sie mit Julian, beide schreiend, die Augen fest zusammengekniffen, einander an der Hand haltend.

Wie peinlich.

Sie vernahm eine Bewegung neben sich und sah Julian, der sich die Haare aus der Stirn strich und mit schräggelegtem Kopf das Bild auf dem Bildschirm musterte. Ein amüsiertes Lächeln umspielte seine Lippen.

»Gut siehst du aus.«

Sie stiess ihn mit dem Ellenbogen in die Seite. »Lügner.« Sie kicherte. »Du übrigens auch.«

Er räusperte sich. »Sag mal, was hältst du von einem Eis?«

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