Nacht auf See

Das Schiff schwankte und pflügte sich durch die Wellen. Tavoran warf einen verschwommenen Blick auf die Kerben im Pfosten der Gefängnistür: sieben Tage. Das Ziel kannte er nicht, er nahm aber an, dass sie die Hauptstadt Catun ansteuerten. Dort war ein Kopfgeld auf ihn aufgesetzt, und der Kapitän des Schiffes war scharf darauf wie ein Hund.

Tavoran richtete sich auf und streckte sich, so gut es die enge Zelle zuliess. Er steckte die Hand durch das eiserne Gitter und langte nach dem Becher, den ihm ein Matrose hingestellt hatte. Mit zittrigen Fingern griff er danach und liess sich mit einem Ächzen zurückfallen, als er feststellte, dass er leer war.

Mit einem Mal vernahm er auf dem Deck über sich hastige Schritte und aufgeregte, gehetzte Rufe. Mehrere Männer schrien Befehle, die Tavoran nicht verstand. Jemand näherte sich der Luke. Einige Augenblicke später erschien im Dämmerlicht ein kräftiger Kerl, der rasch auf seine Zelle zukam und die Gittertür aufschloss.

»Was ist los?« Alarmiert blickte Tavoran dem Ankömmling entgegen. Es war noch viel zu früh, sie waren noch nicht im Hafen von Catun eingelaufen. Ein ungutes Gefühl beschlich ihn.

»Halt’s Maul.« Der Mann riss die Zellentür auf und packte Tavorans Handgelenke. Noch bevor Tavoran genau wusste, wie ihm geschah, hatte ihm der Kerl die Hände bereits hinter dem Rücken zusammengebunden. Dann wurde er grob am Oberarm gepackt und aus der Zelle gestossen.

Ihm wurde einen Augenblick schwarz vor Augen. Er machte einen Ausfallschritt und schwankte, als sich der Boden unter seinen Füssen drehte, und er hatte das Gefühl, als würde das Schiff wie eine Nussschale von den Wellen hin- und hergeworfen. Er hatte jedoch keine Zeit, die Besinnung zu verlieren, denn der Kerl stiess ihn unwirsch die Treppe hoch.

Oben auf Deck tobte das Chaos.

Feuer machte die Nacht zum Tag. Die ganze Takelage und fast alle Segel standen in Flammen, die brennenden Masten stachen in den dunklen Nachthimmel wie drei riesige Fackeln. Hie und da züngelten Flammen bereits an der Reling. Schlagartig spürte er die Hitze in seinem Gesicht und sein Herz setzte einen Moment aus. Rauch brannte in den Lungen und er musste blinzeln, als ihm die Tränen in die Augen stiegen. Die Männer um ihn herum versuchten, die Feuer zu löschen, schrien wild durcheinander, andere zielten mit Armbrüsten und Bögen auf etwas, das sich ausserhalb des Lichtscheins der Feuer befand und das Schiff zu umkreisen schien.

Die Rufe der Männer ging in einem markerschütternden Schrei unter. Tavoran erstarrte und hob den Kopf in den dunklen Himmel. Sein Begleiter liess ihm jedoch keine Zeit herauszufinden, was sich über ihren Köpfen befand. Er stiess ihn weiter hoch zum Achterdeck, wo er bereits vom Kapitän erwartet wurde.

»Was geht hier vor sich?«, stiess Tavoran hervor, doch anstatt einer Antwort erhielt er von seinem Begleiter einen Tritt in die Kniekehle und knickte ein. Der Kapitän mass ihn mit einem hasserfüllten Blick.

»Das wirst du mir eines Tages büssen«, zischte er. Tavoran hatte keine Ahnung, wovon der Kapitän sprach. Dieser packte ihn, schnitt ihm die Fesseln der Handgelenke durch und riss ihn auf die Füsse. Dann trieb er ihn mit seinem Schwert vor sich her zur Reling.

»Hier ist er! Bei Sinnen und unversehrt!«, schrie er. »Nehmt ihn und verschwindet!«

Tavoran wusste nicht, mit wem der Kapitän sprach, doch er wollte es auch nicht herausfinden. Wer auch immer ihn haben wollte, konnte ihm nicht freundlich gesonnen sein: Er hatte keine Freunde, die ein ganzes Schiff mitten auf See in Flammen stecken konnten. So oder so – es würde nicht gut für ihn enden. Er musste verschwinden.

Er nutzte die Unaufmerksamkeit des Kapitäns und liess sich zur Seite fallen. Mit einer schnellen Bewegung kam er auf die Füsse und trat nach dessen Beinen. Dieser stiess einen überraschten Schrei aus, verlor das Gleichgewicht, stürzte und verlor das Schwert. Einen kurzen Moment trafen sich ihre die Blicke, und Tavoran konnte den Hass in den Augen des Kapitäns förmlich spüren. Dann warf sich dieser herum und langte nach dem Schwert. Er war schnell.

Doch Tavoran war schneller. Er erreichte das Schwert vor dem Kapitän, richtete sich auf und hielt ihm die Klinge an die Kehle.

»Was geht hier vor?«, rief Tavoran noch einmal.

Der Kapitän antwortete nicht. Tavoran sah, wie sich seine Augen weiteten und er etwas hinter ihm fixierte. Er spürte eine Bewegung im Rücken und fuhr herum.

Vor Schreck liess er die Klinge fallen. Vor ihm türmte sich ein schwarzer Schatten auf, der bestimmt doppelt so gross war wie er. Nachtschwarze Schuppen, die vom Feuerschein rötlich schimmerten, bedeckten den schwer atmenden Leib und von oben herab musterten ihn gelblich glühende Augen. Ledrige Schwingen legten sich beidseitig des Körpers auf das Deck und gruben ihre Krallen in das Holz.

»Tavoran Maras, der Giftmischer?«

Die Stimme gehörte einem Mann, der auf dem Rücken des Drachen sass, und ihn spöttisch betrachtete.

»Wer will das wissen?« Etwas Besseres fiel ihm nicht ein. Seine Gedanken rasten, aber er war zu keinem klaren Schluss fähig. Was, bei allen Geistern, taten die Opaldrachen aus dem Gebirge hier auf hoher See? Aus dem Augenwinkeln vernahm er weitere Schatten, die das Schiff umkreisten. Er zählte deren vier. Auf eine absurde Weise fühlte er sich ein bisschen geehrt. Da machte sich jemand grosse Mühe, ihn zu sehen.

»Schweig. Steig auf«, knurrte der Drachenreiter und hielt ihm die Hand hin.

Tavoran warf einen Blick zurück auf den Kapitän und das brennende Schiff. Es hatte bereits Schlagseite und würde wahrscheinlich sinken. Ihm blieb nichts Anderes übrig. Ausserdem gab es nicht viel, das schlimmer wäre als die Galgen von Catun.

Er griff nach der Hand des Drachenreiters und stieg hinter ihm auf den Rücken der grossen Echse. Mit einer kräftigen Bewegung stiess sie sich ab und schwang sich in den dunklen Nachthimmel empor. Unter ihnen schrumpfte das Schiff zu einem grellen Punkt zusammen.

»Wo bringt ihr mich hin?«, fragte Tavoran.

Der Drachenreiter wandte den Kopf zur Seite und machte ein ernstes Gesicht. »Wir brauchen deine Hilfe, Giftmischer. Unsere Drachen sind in Gefahr.«

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