Anderswelt

Ich stehe am Geländer und schaue in den dunklen, trägen Fluss hinab. Langsam ziehe ich meine Handschuhe aus und hole das Handy aus der Manteltasche. Ich suche nach dem Bild, welches mein Bruder mir geschickt hat – an jenem Abend, an dem er verschwunden ist.

Das Bild hat er von dieser Stelle aus geknipst, wahrscheinlich um dieselbe Uhrzeit. Auf dem Bild sind allerdings die Wolken schöner. Der Zirkus ist nun auch weg, aber vor einer Woche waren er und Julian noch da.

Ich weiss nicht genau, warum ich hergekommen bin. Vielleicht, weil ich Julian hier nahe sein kann. Oder weil ich hoffe, etwas zu finden, was die Polizei und alle anderen übersehen haben.

Die Worte, die Julian zusammen mit dem Bild per Whatsapp geschickt hat, fallen mir wieder ein: Komm mit in die Anderswelt! Die Nachricht hat er mit einem Drachen-Emoticon ergänzt. Klar, das Foto ist schön. Aber mit dieser Anderswelt kann ich nichts anfangen. Vielleicht fehlt mir einfach die Fantasie. Julian hat immer gewitzelt, dass ich darum wohl Physik studiert hätte. Im Gegensatz zu mir hat er seine kindliche Fantasie bewahrt, und das Gerede von Fabelwesen und dieser Anderswelt hat mich und unsere Eltern regelmässig zur Verzweiflung gebracht. Mit dieser Nachricht ist mir wieder einmal klargeworden, dass wir – obwohl wir Zwillingsbrüder sind – unterschiedlicher nicht sein könnten.

Seufzend stecke ich das Handy zurück und vergrabe meine Hände in den Manteltaschen. Die Kälte kriecht unter meine Kleider, ich zittere und ziehe die Schultern hoch. Im Dunkeln sehen die Lichter der Stadt aus wie Glühwürmchen. Vielleicht hat Julian seine Anderswelt gefunden. Ich wünsche es ihm.

Das scheppernde Geräusch von Konservendosen dringt zu mir hoch. Ich beuge mich vor, blicke über das Geländer nach unten und erkenne im Dunkeln eine gebeugte Gestalt in einem langen Mantel am Ufer neben dem Brückenpfeiler. Ein Obdachloser? Vielleicht hat er Julian gesehen. Ich krame nach etwas Kleingeld.

»Entschuldigen Sie«, beginne ich, während ich die Treppe seitlich neben dem Brückenpfeiler hinuntergehe.

Die Gestalt hebt erschrocken den Kopf und blickt mich fragend an. »Ja?«

Die Stimme gehört einem Mann in meinem Alter, er klingt heiser, vielleicht ist er erkältet. Sein Gesicht kann ich unter all den Haaren kaum erkennen. Die Augenbrauen sind ebenso buschig wie der Schnurrbart, der in einen verfilzten Bart übergeht, und fast das ganze Gesicht überwuchert.

»Sagen Sie, kommen Sie oft hier vorbei?« Ich habe das Ende der Treppe erreicht und sehe, wie mich der Mann mit zusammengekniffenen Augen mustert. Dann weiten sie sich.

»Julian? Was tust du denn hier?«

Mein Herz setzt einen Schlag aus und ich starre ihn einen Augenblick an, ehe ich mich wieder fasse und sage: »Ich … nein. Ich bin nicht Julian. Julian war … ist mein Bruder. Sie kennen ihn?«

Der Mann macht einen Schritt auf mich zu und streckt eine Hand entgegen. Alles in mir sträubt sich davor, von ihm berührt zu werden. Er packt mich grob an beiden Armen und schüttelt mich energisch. In seiner Stimme schwingt Panik mit. »Was tust du denn hier? Du musst von hier verschwinden!«

»Hören Sie auf! Sie verwechseln mich!« Mit einer unwirschen Bewegung versuche ich mich aus seinem Griff zu winden. Er ist stärker, als ich erwartet habe. »Lassen Sie mich los!«

Ich hole Luft, um ihn zurechtzuweisen, verstumme dann aber, als ich sehe, wie sich hinter ihm das Wasser im Fluss zu bewegen beginnt. Es scheint, als würde etwas Grosses direkt unter der Wasseroberfläche auf uns zu gleiten.

»Er ist da«, murmelt der Mann, mehr zu sich selbst als an mich gewandt. Er stürzt an mir vorbei unter der Brücke hindurch. Mich reisst er dabei mit sich, sodass ich auf dem unebenen, dunklen Boden mehr stolpere als laufe.

»He, was …«

Weiter komme ich nicht, denn ich höre, wie hinter uns etwas Grosses aus dem Wasser bricht und sich mit einem nassen Platschen ans Ufer wirft. Ich will einen Blick riskieren, aber der andere lässt mir keine Zeit und zerrt mich weiter.

»Komm! Schnell!«

Er rennt vor mir her und die Panik in seiner Stimme lässt mich gehorchen. Das Platschen ist einem schabenden Geräusch von nassen Schuppen auf Stein gewichen. Ein kleiner Teil von mir ist froh, dass ich keine Zeit habe, mich umzusehen.

Ich stolpere hinter ihm her und stosse beinahe mit ihm zusammen, als er plötzlich stehen bleibt und seitlich des Brückenpfeilers zur Böschung deutet. Als ich nähertrete, erkenne ich einen dunklen Tunnel, aus dem stinkiges, schwarzes Wasser sickert. Bevor ich etwas erwidern kann, stösst er mich grob in den Gang.

»Da rein! Lauf weiter!«

Damit dreht er sich um und verschwindet aus meinem Blickfeld. Einen Moment zögere ich. Dann vernehme ich ein erneutes Platschen … und ein tiefes, unmenschliches Knurren. Es ist ganz nah. Ich renne los.

Bald schmerzen meine Lungen bei jedem Atemzug, die Luft ist eiskalt. Das brackige Wasser hat meine Schuhe durchnässt, und bei jedem Schritt schwappt die Flüssigkeit zwischen meine Zehen. Die Luft riecht nach Moder – aber noch nach etwas Anderem. Moos?

Schnell wird es heller, und ich erkenne, dass der Tunnel endet. Als ich zögerlich ins Freie trete, stehe ich am Ufer eines klaren Flusses, der durch einen üppig wuchernden, grünen Wald führt. Sonnenlicht fällt in breiten Streifen durch das Blätterdach und irgendwo über mir singt ein Vogel eine mir unbekannte Melodie. Ein Stück entfernt sehe ich einen Mann, der die Arme ausbreitet und auf mich zukommt.

»Martin!«

»Julian?« Tausend Fragen schwirren durch meinen Kopf. »Was tust du hier? Wo bin ich?«

Er deutet eine Verbeugung an und macht eine umfassende Armbewegung. »Willkommen in der Anderswelt.«

»Die Anderswelt? Wie …« Ich breche ab und starre ihn an.

Er grinst. »Das vor dem Tunnel kann ich erklären. Ich brauchte ein wenig Hilfe, damit du die Anderswelt findest. Freiwillig wärst du ja nie mitgekommen und hättest alles hinterfragt und analysiert.«

»Was war das für ein Ding?«

Martin führt mich näher ans Ufer und zeigt ins Wasser. Unter der Oberfläche sehe ich einen riesigen geschuppten Körper, der auf uns zu schwimmt und mit einer geschmeidigen Bewegung ans Ufer klettert.

»Darf ich vorstellen? Das ist Salanth. Mein Drache.«

Foto von Isabelle Kluser