In den Ruinen

Der Schatzsucher Thiron Darak erwachte mit unerträglichen Kopfschmerzen. Er lag auf dem Bauch und als er Luft holte, atmete er Staub und Nadeln ein. Der anschließende Hustenanfall schickte Wellen des Schmerzes durch seinen Körper. In seinem Mund schmeckte er Blut.

Als Thiron versuchte, die Arme zu heben und sich aufzustemmen, bemerkte er, wie grobe Seile in seine Handgelenke schnitten. Ächzend drehte er sich auf den Rücken und öffnete die Augen. Doch das rechte war so verklebt, dass er anfänglich nur durch das linke sehen konnte, dass es dunkel war. Über sich erkannte er die Wipfel einiger Tannen und Ruinen ragten in den sternenklaren Nachthimmel.

In seinen Erinnerungen kramte er nach Fetzen, die ihm verrieten, wo er sich befand und wie er hergekommen war, aber er fand nichts. Allem Anschein nach wurde er niedergeschlagen. Aber von wem? Und warum?

Seine Gedanken flossen wie zäher Teer. Er wühlte darin nach der letzten Erinnerung, und vor seinem geistigen Auge erschien ein prasselndes Lagerfeuer inmitten von Ruinen, über den Flammen briet ein Tier an einem Stock. Er sass auf einem moosbewachsenen Steinquader und murmelte etwas.

»Der Kreis der Ewigkeit.« 

Was auch immer damit gemeint war.

Und dann erinnerte er sich daran, wie er einen Ring aus unzähligen feingeschmiedeten Golddrähten zwischen den Fingern drehte, und spürte die Macht, die von ihm ausging. Und er wusste, dass er der Grund war, weshalb er sich in diesen Ruinen herumtrieb.

Und mit ihm noch jemand anders. Dieser Jemand hatte ihn überfallen und ihm bestimmt seinen Ring gestohlen.

Thiron setzte sich auf und versuchte, die Fesseln zu lösen, was ihm erstaunlich leicht fiel. Derjenige, der ihn gefesselt hatte, hatte wohl keine große Ahnung davon. Das Seilstück steckte er sich in seine Taschen. Vielleicht konnte er es später noch gebrauchen.

Vorsichtig tastete er nach seiner rechten Schläfe und fühlte eine große Beule und das verkrustete Blut, das ihm übers Gesicht ins Auge gelaufen war. Da hatte wohl jemand ziemlich zugeschlagen. Kein Wunder, dass er sich daran nicht erinnerte.

Mit einiger Anstrengung erhob er sich und spähte in die Dunkelheit. Um ihn herum erkannte er Trümmer einer alten Tempelanlage, große Quadersteine, Bruchstücke von Säulen und zerbrochene Steinplatten. Die einst sicherlich prächtige Anlage war über die Jahrhunderte durch Wind, Regen und Schnee geschliffen und vom Wald eingenommen worden.

Durch die Bäume sah er einen schwachen Lichtschein, der allen Anschein nach von einem Lagerfeuer stammte. Von seinem Lager?

Beinahe lautlos schlich Thiron durch den Wald auf das Lager zu. Er wusste nicht, ob sich sein Gegner noch in den Ruinen herumtrieb, deshalb wollte er vorsichtig sein. Vielleicht sass er sogar an seinem Lagerfeuer und ass von seinen Vorräten.

Im Schutze der Dunkelheit näherte er sich dem Lager bis auf ein paar wenige Schritte. Es war tatsächlich seines. Über der Feuerstelle brieten die Reste einer Mahlzeit und daneben erkannte er seine Schlafstatt. Im Schein des Feuers erkannte er zudem weitere Habseligkeiten – seine Habseligkeiten.

Und mit dem Rücken zu ihm sass eine Gestalt auf einem moosbewachsenen Steinquader. Thiron konnte wegen des Feuerscheins nur die Umrisse erkennen, aber es war eindeutig ein Mann. Und er schien etwas in den Händen zu halten.

Unbändige Wut stieg in Thiron auf. Dieser dreiste Dieb lümmelte an seinem Lagerfeuer herum, ass von seinem Essen und hielt seinen Ring in den Händen. Das sollte er büßen!

Aber wie sollte er vorgehen? Sollte er ihn niederschlagen? Oder doch erst zur Rede stellen? 

Eine Waffe. Ganz sicher brauchte er eine Waffe. Thiron sah sich suchend um und entdeckte neben sich einen Holzknüppel, der an einer bröckeligen Mauer lehnte. Fast hätte er über den Zufall gelacht. Es war beinahe so, als wäre die Waffe für ihn dort abgestellt worden.

Er griff nach dem Knüppel, der erstaunlich gut in der Hand lag, und näherte sich vorsichtig der Gestalt am Feuer. Nur noch ein Schritt, und …

Dann brach mit einem lauten Knacken plötzlich ein Ast unter seinem Fuß.

Der Dieb fuhr herum. Thiron konnte gegen den Schein des Feuers das Gesicht nicht erkennen, aber es interessierte ihn nicht, wer ihn überfallen hatte. Im Moment zählte nur, dass er seine Beute wiederbekam.

Er sah, wie der Fremde den Ring erschrocken fallenließ und aufsprang. Thiron reagierte schneller, überwand den letzten Schritt und holte zum Schlag aus. Er traf den Dieb an der rechten Schläfe und sah zu, wie dieser zur Seite geschleudert wurde und halb hinter dem Steinquader wie ein nasser Sack zu Boden fiel.

Zufrieden lehnte Thiron den Knüppel an die bröcklige Mauer, nachdem er sich vergewissert hatte, dass sich der Dieb nicht mehr rührte. In seinen Taschen kramte er nach dem Seil und begann umständlich die Handgelenke des Mannes zusammenzubinden. Er hatte keine Ahnung, wie man das richtig machte, aber da der Dieb bewusstlos war, würde das schon ausreichen. Dann packte er ihn an den Füssen und schleifte ihn durch den Wald und die Ruinen zu der Stelle, an der ihn der andere zurückgelassen hatte.

Dem Kerl sollte es schließlich gleich ergehen, wie ihm! Er wollte ihn die Nacht hier schmoren lassen und erst morgen wieder nach ihm sehen.

Zufrieden kehrte er zu seinem Lager zurück, hob den Ring auf und steckte ihn an den Finger. Dann setzte er sich ächzend auf den Steinquader und starrte gedankenverloren ins knisternde Feuer. Nach all der Anstrengung spürte er die Schmerzen in seinem Körper mehr denn je. 

»Und das alles nur wegen dir«, murmelte er, löste den Ring vom Finger und betrachtete ihn genauer. Die aufwändig geschmiedeten Golddrähte verschlangen und verdrehten sich ineinander, und Thiron hätte schwören können, dass sie sich bewegten.

»Der Kreis der Ewigkeit.«

Er zuckte zusammen und fuhr herum, als hinter ihm ein Ast mit lautem Knacken zerbrach. Er ließ den Ring fallen und schnellte hoch – und hielt überrascht inne.

Verwirrung machte sich in seinem Gesicht breit, als er erkannte, wer da erleuchtet vom Schein des Feuers vor ihm stand und zum Schlag ausholte.

Wie er selber zum Schlag ausholte.

Und dann wurde alles schwarz.

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